Chamuyo

Quelle: http://recopado.otrosbuenosaires.com

Zu den herausragenden Eigenschaften der Menschen in meiner Wahlheimat gehört der chamuyo. Das bedeutet in etwa bullshit, das dazugehörige Verb chamuyar kann man mit „lügen“ übersetzen. Mit chamuyo ist aber auch die Angewohnheit gemeint, erfundene Geschichten so zu erzählen, als handle es sich um die pure Wahrheit. Die Fähigkeit, aus dem Stehgreif urbane Mythen zu erfinden und trocken zu erzählen, scheint den als porteños bekannten Bewohnern der Hauptstadt in die Wiege gelegt worden zu sein. Dem chamuyo liegt eine relativistische Einstellung zugrunde, nach der es wichtiger ist, dass sich ein Sachverhalt als schöne Geschichte erzählen lässt, als dass er, streng genommen, der Wahrheit entspricht. Objektive Wahrheit existiert sowieso nicht, warum nicht eine eigene, schönere Wahrheit kreieren? Das verrät etwas über die hohe Wertschätzung der Literatur in Argentinien, und macht den Alltag interessanter.

Der chamuyo hat aber auch Nachteile. Ich wende mich in Buenos Aires z.B. schon lange nicht mehr an Fremde, wenn ich mich verlaufen habe, da ich festgestellt habe, dass Argentinier nie zugeben, die Adresse, die ich suche, nicht zu kennen. Stattdessen erfinden sie irgendetwas und ich verlaufe mich nur noch mehr. Auch meine journalistische Arbeit macht es nicht gerade leichter, dass man hier jede Behauptung mit mehr als nur einer Prise Salz nehmen muss. Die Aussage eines Mitglieds der maradonianischen Kirche, Gary Lineker und Ronaldinho gehörten zur internationalen Gemeinde der Maradonianer, die ich kürzlich in einem Artikel verwendet habe, ist ein eher harmloses Beispiel von chamuyo, da sie sich ohne längere Überlegung als Schwachsinn abtun lässt. Die Behauptung eines Freundes eines Freundes, hingegen, er kenne in der nördlichen Provinz Entre Ríos eine Gemeinschaft von Iranern, die in den 1940er Jahren emigriert und heute glühende Befürworter der Islamischen Republik seien, ist schon gewiefter. Der Einfluss von Borges ist unverkennbar.

Meine Skepsis war also vielleicht verständlich, als mir ein Freund erzählte, der in Argentinien gefeierte Día del Amigo (Freundestag) sei aus Anlass der ersten Mondlandung 1969 eingeführt worden. Die Mondlandung und die unsterblichen Worte von Neil Armstrong waren zweifellos sehr bedeutend. Für die Raumfahrt, die Wissenschaft, die Dynamik des Kalten Krieges. Aber was hat das mit der Freundschaft zu tun? Ich weiß es nicht, aber Wikipedia gibt meinem Freund Recht. Der Día del Amigo wird in Argentinien, Brasilien und Uruguay jedes Jahr am 20. Juli, dem Jahrestag der Ankunft der Apollo XI auf dem Mond, gefeiert, weil es einem gewissen Dr. Enrique Ernesto Febbraro, seines Zeichens Professor für Psychologie, Philosophie und Geschichte, sowie Musiker und Zahnarzt, irgendwie passend erschien. Der Día del Amigo ist nur einer von einer Reihe Hommage-Tagen, die größtenteils nicht gesetzliche Feiertage sind, aber von den Geschäften des Landes zum Anlass für Sonderangebote, Geschenktipps und andere Werbeaktionen genommen werden. Als da wären (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): der Kindertag, der Schülertag, der Lehrertag, der Tag der Nationalflagge, der Tag der Nationalhymne, der Tag des Nationalwappens, der Tag der Rasse (Jahrestag der Ankunft von Kolumbus in Amerika, seit 2007 in Argentinien offiziell Tag der kulturellen Vielfalt Amerikas), die Woche der Süßigkeiten, sowie natürlich Muttertag und Vatertag. Valentinstag und Halloween haben sich hier (noch) nicht durchgesetzt, vielleicht aufgrund der Fülle an bereits vorhandenen Feiertagen.

Was macht man am Día del Amigo? Man wünscht sich per SMS einen schönen Freundestag, abends trifft man sich auf ein paar Bier, auch wenn der Tag, wie in diesem Jahr, auf einen Dienstag fällt. Wichtig ist, zu erkennen zu geben, dass man das Ganze mit einer Portion Ironie nimmt. Der Feiertag sei ja nur eine Erfindung der yanquis (Yankees – Amis), damit man sich Geschenke kauft. Die Kneipen jedenfalls freuen sich, und es bietet sich die Gelegenheit zu einem bisschen chamuyo, was übrigens auch ein Synonym für die Flirtkunst ist.

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