Die Ermordung von Karen Fischer und Christian Struwe: der Stand der Kenntnisse

Am 22. September kamen Karen Fischer und ihr Lebensgefährte Christian Struwe zum ersten Mal seit etwa zehn Monaten nach Afghanistan. Sie verbrachten sechs Nächte im Zimmer 22 der Kabul Lodge, ein Gästehaus in der Shar-e Naw Gegend der Hauptstadt, das vor allem bei Deutschen beliebt ist. „Sie haben immer hier gewohnt, wenn sie in Kabul waren“, sagt Haider Jailani, der Manager der Kabul Lodge. „Hier haben sie sich kennengelernt und ineinander verliebt“. Sie seien über die Zeit gute Freunde für ihn und seine Mitarbeiter in der Pension geworden und hätten auch deren Familien besucht. „Wir haben alle den ganzen Tag geweint, als wir es erfahren haben. Die Kellner, die Putzfrauen… alle“, so Jailani. Das Paar hatte heiraten wollen. „Ich glaube, sie waren diesmal gekommen, um so etwas wie eine Hochzeitsreise zu machen.“

Fischer und Struwe haben 1000 Euro in Afghani umgetauscht und einen schwarzen Toyota Surf Geländewagen mit Vierradantrieb, der der Kabul Lodge gehörte, gemietet. Auf einen Fahrer verzichteten sie. „Ich habe ihnen gesagt, dass es zu gefährlich ist, alleine zu fahren. Außerdem war der Preis mit oder ohne Fahrer der selbe“, berichtet Jailani. Die beiden Deutschen lehnten dankend ab.

Karen Fischer war eine 30-jährige freie Mitarbeiterin des Deutsche Welle Hörfunks. Sie hatte seit 2003 ab und an aus Afghanistan berichtet und lebte in Köln. Christian Struwe war ein Techniker aus Berlin. Er war 38 Jahre alt und hatte bis zum Herbst 2005 immer wieder für mehrere Monate an einem Ausbildungsprojekt der Deutschen Welle für afghanische Journalisten mitgearbeitet. Beide kannten sich in Afghanistan gut aus, beherrschten die Landessprachen Dari und Paschto allerdings nicht.

Am 24. September besuchten sie Tariq Ayub, den technischen Leiter des Deutsche Welle TV Studios in Kabul in seinem Büro. Das liegt auf dem Gelände des afghanischen Rundfunks „Radio and Television Afghanistan“ (RTA). Sie kannten Ayub von früheren Aufenthalten in Afghanistan. Struwe hatte viel mit ihm zusammen gearbeitet. Sie erzählten ihm, dass sie vorhätten, in die Provinz Bamian zu fahren und dort zu zelten. Ayub versuchte, es ihnen auszureden. „Ich habe gesagt: Afghanistan ist nicht mehr so sicher wie vor zehn Monaten. Macht das nicht. Aber Christian meinte, er würde sich gut genug auskennen.“ Fischer und Struwe hatten eine Videokamera dabei, haben Ayub aber nicht gesagt, was sie filmen wollten. Einen Auftrag hatten sie nicht.

Am 28. September flog das Paar in die westafghanische Stadt Herat. Dort wollten sie ein Interview mit dem Provinzgouverneur führen. Sie kamen am ersten Oktober in die Hauptstadt zurück und verbrachten noch eine Nacht in der Kabul Lodge Am nächsten Tag bezahlten sie ihre Hotelrechnung von 497 Dollar und machten sich mit dem Jeep auf den Weg nach Masar-e Scharif im Norden Afghanistans, sechs Autostunden von Kabul entfernt. Die Mietgebühr für den Wagen wollten sie nach ihrer Rückkehr zahlen. Wann sie nach Kabul zurückkommen wollten, haben sie Jailani nicht gesagt.

In Masar-e Scharif haben Fischer und Struwe am vierten Oktober den Bundeswehrstützpunkt besucht und mit einigen Offizieren gesprochen. Sie haben außerdem einen Dolmetscher kontaktiert und gebeten, sie zu begleiten. Der hatte aber keine Zeit. So sind sie am vergangenen Freitag ohne Dolmetscher auf der Straße Richtung Kabul zurückgefahren. Sie fuhren an der relativ vielbefahrenen Straße nach Bamian vorbei und bogen erst in Dowshi, gut 150 Kilometer nördlich von Kabul, rechts in Richtung Westen ab. Die Landstraße, die quer durch die Provinz Baghlan führt, befindet sich in einem schlechten Zustand und ist nur sehr langsam befahrbar. Laut Tariq Ayub von DW-TV gibt es noch zwei andere Gründe, weshalb die Straße kaum genutzt wird: „Erstens ist die Gegend vermint und zweitens gibt es da viele Hekmatyar-Leute.“ Gulbuddin Hekmatyar ist ein Kriegsherr, der in den 1980er Jahren eine der größten Mudschaheddin-Gruppen im Kampf gegen die Sowjetunion anführte und mit den Taliban in Kontakt stehen soll.

Es ist nicht bekannt, warum Karen Fischer und Christian Struwe nicht die bessere Straße nach Bamian nahmen und ob sie die Strecke jemals zuvor gefahren waren. Warum sie eigentlich nach Bamian wollten, ist auch unklar. Bamian ist für die großen Buddha-Statuen bekannt, die von den Taliban zerstört wurden und zur Zeit wiederaufgebaut werden.

Gegen Abend erreichten sie Tala wa Barfak, einen abgelegenen Ort, in dem etwa zwanzig Familien wohnen. Die Entfernung zur nächsten Polizeistation beträgt zwanzig Kilometer. Parallel zur Straße verläuft auf der einen Seite eine Bergkette, auf der anderen der Surkhab-Fluss. Hinter dem Fluss liegt das Dorf. Sie schlugen ihr Zelt auf dem schmalen Streifen zwischen Straße und Fluss auf, gegenüber der Moschee des Dorfes. Auf dem Weg zum Abendgebet sahen die Bewohner von Tala wa Barfak, dass sich die zwei Deutschen am gegenüberliegenden Ufer etwas zu essen machten.

In Afghanistan geht man in der Regel früh ins Bett und steht im Morgengrauen auf. Große Teile des Landes verfügen über keinen Strom. So haben Fischer und Struwe höchstwahrscheinlich geschlafen, als sie gegen halb zwei Uhr morgens überfallen wurden.

Die Dorfbewohner hörten Schüsse und rannten über die 50 Meter entfernte Brücke, um zu sehen, was geschehen war. Sie konnten in der Dunkelheit sehen, wie vier Männer auf der Straße in westlicher Richtung wegrannten. Die Deutschen lagen tot vor dem Zelt. Sie waren nur leicht bekleidet, was darauf hindeutet, dass sie etwas gehört hatten und aus ihrem Zelt gestürzt waren.

Die Bewohner von Tala wa Barfak verständigten die Polizei im mehr als 50 Kilometer entfernten Städtchen Pul-i Khumri, das an der Straße zwischen Masar-e Scharif und Kabul liegt. Wegen der schlechten Qualität der Straße erreichten die Polizisten erst um 19 Uhr am Samstagabend den Tatort. Sie sammelten mehr als zwanzig Patronenhülsen auf. Im gemieteten Auto der Deutschen befanden sich Einschusslöcher, die Kamera war auch von einer Kugel getroffen worden. Die Täter hatten anscheinend nichts gestohlen. Die persönlichen Gegenstände der Journalisten, ihr Laptop sowie 30 Euro und 400 Afghani – rund acht US-Dollar – befanden sich noch im Zelt.

Die Leichen wurden ins Krankenhaus in Pul-i Khumri gebracht, wo sie Dr. Gholam Khan Abdulrahim Si um zwei Uhr morgens untersuchte, bevor sie nach Kabul weitertransportiert wurden. Der Arzt stellte fest, dass Karen Fischer im Kopf, in der Brust, in der Schulter, im Unterleib und in der Wade getroffen worden war. Christian Struwe hatte Einschusslöcher im rechten Oberschenkel, in der rechten Schulter und im Kopf. Dr. Abdulrahim Si geht davon aus, dass sie, vor dem Zelt stehend, aus etwa fünf Metern Entfernung mit Kalaschnikow-Gewehren niedergeschossen wurden. Beide waren sofort tot.

Kommissar Habib Rahman, der die Ermittlungen in Pul-i Khumri leitet, ist sich sicher, dass es sich bei den Tätern um „Feinde des afghanischen Volkes“ handelt. Das ist der von der afghanischen Regierung verwendete Sammelbegriff für die Taliban, Al Qaeda und andere bewaffnete Gruppen, die – vornehmlich im Süden und Osten des Landes – gegen die NATO-Truppen kämpfen und Selbstmordanschläge gegen Regierungsziele verüben. Er fügt hinzu, dass es in Tala wa Barfak viele Sympathisanten der Taliban gäbe. Ein selbsternannter Taliban-Sprecher hatte allerdings bereits am Samstag verkündet, die Taliban hätten nichts mit den Morden an Karen Fischer und Christian Struwe zu tun gehabt. Sie würden keine Journalisten angreifen, sondern ausschließlich die Amerikaner und ihre Helfer. Im relativ sicheren Norden Afghanistans gibt es zudem so gut wie keine Taliban. Es hat sich auch sonst niemand zu der Tat bekannt. Ein terroristischer Akt, für den keine terroristische Vereinigung die Verantwortung übernimmt, ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario.

„Wir haben die Beiden erst für Touristen gehalten, bis wir den Presseausweis von Karen Fischer fanden“, erzählt Rahman. In der Tat wäre wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, dass die Ausländer, die ohne Fahrer und ohne Dolmetscher, aber mit Zelt, mitten im afghanischen Nirgendwo unterwegs waren, Journalisten waren. Dass sie wegen ihres Berufes ermordet wurden, dürfte also auch auszuschließen sein.

Außerdem konnte niemand, der nicht aus Tala wa Barfak oder der direkten Umgebung kommt, wissen, dass sich dort Ausländer aufhielten. Zumal die Täter ja zu Fuß entkamen und laut Kommissar Rahman die Polizei keine Spuren eines Fahrzeugs gefunden hat.

Es könnte sich um einen gescheiterten Raubversuch handeln. Die Täter wurden möglicherweise von ihren Opfern überrascht, bevor sie etwas nehmen konnten, und mussten dann vor den Dorfbewohnern fliehen.

Die geringe Summe an Bargeld, die Fischer und Struwe bei sich gehabt haben sollen, gibt noch Rätsel auf. 30 Euro und 400 Afghani sind auch in Afghanistan nicht genug, um lange reisen zu können.

„Sie haben mir gesagt, dass sie knapp bei Kasse waren“, erzählt Jailani, der Manager der Kabul Lodge. „Aber wahrscheinlich hat die Polizei das Geld geklaut und ein bisschen übriggelassen, damit es nicht auffällt. Die Polizei hat mich auch angerufen und gefragt, wo das Auto geblieben sei. Dabei sieht man doch auf den Fotos in der Zeitung, dass sie es haben. Sie werden es einfach behalten. So läuft das hier.“

Schon am Samstag, ein Tag nach dem Verbrechen, sagte ein Sprecher der Polizei von Pul-i Khumri, man habe acht Tatverdächtige festgenommen. Am nächsten Tag wusste niemand mehr etwas davon. Stattdessen kündigte der Provinzgouverneur von Baghlan an, in Kürze würden fünf oder sechs Verdächtige festgenommen, die man bereits ausfindig gemacht habe. Am Montag behauptete der afghanische Wirtschaftsminister, es hätte zehn Festnahmen gegeben. Das Innenministerium dementierte umgehend. Unter dem Strich wurde bis dato noch niemand verhaftet. Das BKA hat am Mittwoch fünf Ermittler nach Afghanistan geschickt. Das darf die afghanische Polizei allerdings nur bei ihrer Arbeit unterstützen und nicht selbstständig ermitteln.

Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis wir wissen, wer Karen Fischer und Christian Struwe ermordet hat.

2 Responses to Die Ermordung von Karen Fischer und Christian Struwe: der Stand der Kenntnisse

  1. Das ist der erste gute veröffentlichte Beitrag zur Sache.
    Ein Abschied. http://www.pbase.com/abulafia/karen

    Nicole und Hans | 17:48 on the 12th of Oktober, 2006

  2. Danke für Deine sicht auf die Sache, kann mich der Meinung von Nicole und Hans nur anschliessen.

    Gunnar | 12:26 on the 12th of Oktober, 2006

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